Historisches

Kurzer Ruhm für kurze Schrift

Vor 180 Jahren wurde in Zossen der Stenograf August Lehmann geboren. Erinnerung an einen Unbekannten.

von Gunnar Lehmann

Die Lehmannstraße in den Zossener Weinbergen kennen viele Einwohner der Stadt nicht zuletzt wegen des dort gelegenen Kindergartens Bummi. Aber die wenigsten werden wissen, nach welchem Träger dieses nicht gerade seltenen Familiennamens sie benannt wurde. Karl Friedrich August Lehmann wurde am 16. April 1843 als Sohn armer Kleinbauern in Zossen geboren. Trotz seiner proletarischen Herkunft gewährte die damalige Klassengesellschaft dem musisch und in Fremdsprachen begabten Kind eine solide Schulbildung. Doch der Vater verstarb früh und der Stiefvater versagte dem Heranwachsenden die Finanzierung der angestrebten Ausbildung zum Lehrer oder Pastor. Hinzu kam eine komplizierte Fußverletzung, die den jungen Mann zum Invaliden machte. Notgedrungen ergriff er den Beruf des Schuhmachers. Er war ein guter Handwerker mit eigener Werkstatt, die Tätigkeit befriedigte aber nicht seine intellektuellen Bedürfnisse. „Schuster bleib bei deinen Leisten“ – das mögen wohl viele Zossener Kleinbürger angesichts Lehmanns vielseitiger Interessen gedacht haben.

1867 zog er mit seiner Frau, die er im Jahr zuvor geheiratet hatte, in die sich rasant entwickelnde Metropole Berlin. Es war das Zeitalter der Industrialisierung und Lehmann stand offensichtlich der jungen Arbeiterbewegung nahe. So kam er in Kontakt mit dem Berliner Arbeiterverein, mit dessen Vorsitzenden er ein Unternehmen zur fabrikmäßigen Produktion von Damenstiefelabsätzen gründete. Nebenberuflich bildete sich Lehmann in einem Arbeiterbildungsverein weiter und erlernte bei Leopold Arends, einem damals einflussreichen Stenografen, dessen Kurzschriftsystem. Zu jener Zeit vor dem Siegeszug der Schreibmaschine hatte die Stenografie einen anderen Stellenwert als heute und wurde auch außerhalb der Amtsstuben, Gerichte und Parlamente von vielen Menschen gebraucht und als große Erleichterung empfunden.

Schriftprobe von August Lehmanns Stenotachygraphie aus dem Jahre 1875.

Statt eines einheitlichen Systems existierten jedoch eine ganze Reihe miteinander konkurrierender Schulen. Lehmann wurde zunächst ein glühender Verfechter des Arends‘schen Systems, lernte aber auch die Vorteile der weiter verbreiteten Schriften von Gabelsberger und Stolze kennen. Weil er mit Verbesserungsvorschlägen nicht vordringen konnte, gründete er zusammen mit Gleichgesinnten eine neue Gesellschaft. Seine Reformbestrebungen mündeten schließlich in einem völlig neuen System, das er Stenotachygraphie nannte (griechisch für „Engschnellschrift“). 1875 erschien Lehmanns erstes Lehrbuch, welches innerhalb von zwei Jahrzehnten 12 Auflagen von zusammen 20.000 Exemplaren erfahren sollte. Im gleichen Jahr veröffentlichten noch Karl Faulmann und Heinrich Roller ihre Entwicklungen. Alle diese Schriften wurden von Arbeitern für Arbeiter entworfen und nahmen für sich in Anspruch, schneller erlernbar, besser lesbar und kürzer zu sein als viele Alternativen. Unter anderem mit einer eigenen Zeitschrift entfaltete Lehmann nun eine aktive Werbetätigkeit, um neue Schüler für seine Idee zu gewinnen.

Den ungeliebten Beruf hatte Lehmann längst aufgegeben und widmete sich fortan voll und ganz der Verbreitung und Weiterentwicklung der Stenografie. Die persönlichen Erfolge waren leider nur von kurzer Dauer. Schon bald geriet er zwischen die Fronten des mit aller Härte geführten Systemkampfes um die beste Kurzschrift. Diese polemische Auseinandersetzung wurde nicht nur zwischen den einzelnen Schulen, sondern auch innerhalb derselben ausgefochten. Mitte der Achtzigerjahre streuten seine Widersacher gezielt das Gerücht, Lehmann sei ein Plagiator und hätte die Stenotachygraphie nicht selbst entwickelt. Dieser Vorwurf, der jeglicher Grundlage entbehrte, muss ihn zusammen mit dem Tod seiner Frau im Jahre 1886 in eine tiefe psychische und materielle Krise gestürzt haben. Zeitweise soll er dem Verfolgungswahn nahe gewesen sein. Die eigenen Schüler wandten sich von ihm ab und gründeten 1887 einen neuen Verband, der unter der Leitung des erst 22 Jahre alten Johannes Dahms stand. Dieser sehr ehrgeizige Agitator nahm eigenmächtige Änderungen am System vor, die Lehmann strikt ablehnte.

Seines Einflusses auf die Schule beraubt, war auch seine wirtschaftliche Lage, die auf dem Erteilen von Unterricht und dem Verkauf von Lehrbüchern beruhte, zunehmend prekär. Erst durch eine zweite Eheschließung besserten sich seine Lebensumstände wieder. Der Versuch, mit einer Weiterentwicklung seiner Ideen unter dem Titel „Schnell-Stenographie“ wieder an die alten Erfolge anzuschließen, führten nicht zum Ziel. Immerhin wurde er 1892, wenn auch nur im Nachtrag, in Kürschners Deutschem Literatur-Kalender aufgenommen, der seinerzeit alle wichtigen deutschen Schriftsteller erfasste. Die endgültige Widerlegung der gegen ihn gerichteten Vorwürfe erlebte er nicht mehr.

Als er 1893 starb, war er weitgehend isoliert, obwohl die Stenotachygraphie bereits in 121 Vereinen mit über 2.200 organisierten Mitgliedern praktiziert wurde. Anfang des vergangenen Jahrhunderts waren es schon 415 Vereine mit über 16.300 Mitgliedern. Die Stenotachygraphie avancierte damit zum drittgrößten deutschen Kurzschriftsystem. Außerdem wurde die Schrift auf ein Dutzend Fremdsprachen übertragen. Nach jahrelangen Verhandlungen konnten sich die Vertreter der großen Stenografie-Systeme 1924 auf die Deutsche Einheitskurzschrift einigen, in die die Ideen Lehmanns allerdings keinen Eingang fanden. Wenige Jahre später löste sich die stenotachygraphische Bewegung auf. Das mag der Grund sein, dass Lehmann schnell in Vergessenheit geriet. Während die Grabsteine der anderen in Berlin ansässigen Vordenker der modernen Stenografie wie Wilhelm und Franz Stolze, Max Bäckler, Alfred Daniel, Leopold Arends, Ferdinand Schrey oder Heinrich Roller bis heute erhalten geblieben sind, wurde die letzte Ruhestätte August Lehmanns auf dem Friedhof Zum Heiligen Kreuz in Berlin-Mariendorf eingeebnet. Eine Gedenktafel an seiner letzten Adresse Möckernstraße 112 ging wohl im Zweiten Weltkrieg verloren. An den erfinderischen Zossener Schuhmacher erinnert heute lediglich ein Straßenname in seiner märkischen Heimatstadt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert