AllgemeinHistorisches

Xanthias unser erster benannter Stenograf

Ein Bericht aus der Deutschen Stenografenzeitung, 74. Jahrgang, Ausgabe 2, Februar 1966

Eine Anfrage des Westdeutschen Stenografenverbandes nach dem Verbleib des Xanthiassteins veranlaßte mich zu der Bitte an den Direktor des Rathauses 1953 freigelegt und überwölbt worden waren, anzustellen. Der Stein war nach dem Krieg einige Jahre bei dem Dionysosmosaik, unmittelbar südöstlich vom Domchor, gezeigt, dann aber wieder auf Lager genommen worden. Kollege Jupp Schlicker befürwortete die Anregung, der Prof. Dr. Otto Doppelfeld sofort entsprach. Fährt nun der Besucher im R a t h a u s „mit dem Fahrstuhl in die Römerzeit“, so findet er gleich links vom Eingang neben größeren Denkmälern die Grabschrift für den jugendlichen „Ahnherrn der deutschen Stenografen“.


Die schmucklose Platte aus weißem Sandstein ist 73 cm hoch, 49 cm breit und 7,5 cm dick. Die Inschrift von 22 in einzelnen Zeilen angeordneten Versen mit etwa 2 cm großen Buchstaben ist zwei Jünglingen (Sklaven) gemeinsam gewidmet, „an Jahren gleich, ungleich hingegen in der Kunst“, einen nur kurz erwähnten Flötenspieler („Mit heller Flöt´ beherrschte ich, Sidonius, den Musikchor“, übersetzte Klinkenberg), und Xanthias, dessen Geschicklichkeit beredt gepriesen wird. Für den klassisch gebildeten Leser wird es reizvoll sein, das Original mit drei Übersetzungen zu vergleichen, deren Verfasser sich um die beste sinngetreue Wiedergabe des Wortlautes bemühten, der vor allem in den letzten Drittel einige philologische Schwierigkeiten bietet.

Lateinischer Klartext
Hoc hoc sepulcum respice,
qui carmen et musas amas,
et nostra communi lege
lacrimanda titulo nomina.


nam nobis pueris simul
ars varia, par aetes erat.
ego consonanti fistula
Sidonius arcris perstrepens.
hoc carmen, haec ara, hic cinis
pueri sepulcrum est Xantiae,
qui morte acerba raptus est,


iam doctus in compendia
tot literarum et nominum
notare currenti stilo,
quod lingua currens diceret.


iam nemo superaret legends.


iam voce erili coeperat
ad omne dictatum volans
aurem vocari ad (ad) proximam.


heu morte propera concidit,
arcana qui solus sui
sciturus domini fruit.

Ments (1944)
Schau dieses Grabmal an,
Wenn du Dichtung und Musen liebst,
Und lies unsere Namen,
Die eine gemeinsame Inschrift beweinen will.


Denn wir beiden Sklaven waren
Gleich an Alter, verschieden an Beruf.
Ich, Sidonius, ließ laut
Die Klingend Flöte erschallen.
Dieses Lied, dieser Altar, diese Asche
Ist das Grab des Sklaven Xanthias.
Er wurde durch den herben Tod entrissen,


Schon gelehrt, in Sigeln
So viele Buchstaben und Wörter
Mit eilendem Griffel nachzuschreiben,
Wie viele die eilende Zunge zu sagen vermag.


Schon hätte kein Vorleser ihn übertroffen


Schon war er auf das Herren Wort
Zu jedem eilenden Diktat
In eine Vertrauensstellung gerufen worden.


Ach, durch frühen Tod sank er dahin,
Er, der allein die Geheimnisse
Seines Herren erfahren sollte.

Klinkenberg (1901)
Dieses Mal, dies Grablied deckt den Staub


Des jugendlichen Xanthias,
Den bittrer Tod dahingerafft,
Als eben er die Kunst gelernt,
In Kurzschrift Wort´ in solcher Zahl
Zu schreiben mit eilfertgem Stuft,
Als schnellen Laufs die Zunge spricht.


Schon kam kein Leser ihm zuvor;
Bereits erging des Herren Ruf
An ihn zu jedem Brief, bestimmt
Zur Sendung an vertrautes Ohr.
Da traf ihn, ach ein schneller Tod,
Der seines Herren Geheimnisse
Wissen sollte, er ganz allein!

Johnen (1904)
Hier dieses Lied, die Urn´, das Mal,


Sie künden dir des Xanthias Grab,
Der früh schon litt des Todes Qual,
Als er – an Jahren noch ein Knab´-
Schon wußt` in kurzer Notenschrift
Die Laute alle, Wort für Wort,
Zu bannen mit bebendem Stift,


Wie von der Zung´ sie huschen fort;
Den schon ein Leser überholt´,
Den schon der Herr stets auserkor,
Galt´s ein Diktat, das fliegen sollt
Nur an des treusten Dieners Ohr.
Weh, allzu früh sank er dahin,
Der kannt´ des Herren geheimsten Sinn.

Zum besseren Verständnis trägt noch die Fassung der Zeilen 16 bis20 aus der Übersetzung von Max Rubensohn im Archiv 1903 S. 110 bei: „Schon kam er mit, so rasch man las“. [Aus umfangreichen literarischen Werken, die in Schriftrollen oder Kodizes vorlagen, wurden auffallende oder wichtige Stellen ausgezogen, eine Besonderheit der antiken tachygrafischen Tätigkeit.] „Schon nahm, was nur sein Herr diktiert, Im Flug er auf, ja fing schon an, Der >>Nächste<< seinem Ohr zu sein.“


Rubensohn kam auf Grund des eigentümlichen Aufbaues des verengten Nachrufes zu der Vermutung, die zunächst selbstständig gedachte Inschrift für Xanthias sei zuerst eingehauen worden und etwas später als Nachtrag die für den nach ihm gestorbenen Musikanten, weil die Buchstabenhöhe in den ersten acht Zeilen geringer ist (18 : 20 bis 23 mm). Vorher hätte an dieser Stelle also noch die Eingangsformel D(is) M(anibus) [Dem Andenken] oder ein Hinweis auf den Namen des Herren oder auch ein Ornament gestanden haben können. Diese Frage ist offengeblieben, und gern wüßten wir Näheres über die soziale Stellung des vornehmen Römers.


Der Grabstein „bietet ein kulturhistorisches Genrebild aus dem römischen Köln indem er vor unserem geistigen Augen ein glänzendes römisches Haus wieder aufleben läßt, dessen Herr sich zu seiner Geschäftsführung gebildete Sklaven als Sekretäre (amanuenses) und Stenografen (notarii), zu seiner und ihrer Gäste Belustigung eine eigene Musikkapelle (pueri symphoniaci) hält“, schrieb Josef Klinkenberg, der sorgsame Bearbeiter der römischen Grabdenkmäler Kölns um die Jahrhundertwende, nach der Wiederauffindung des Steins im Februar 1901 in der Kölnischen Volkszeitung vom 22. Mai 1901.


Wir dürfen annehmen, daß in den rund vier Jahrhunderten der Römerherrschaft in der colonia Agrippinensium (50-457/8) bei einer Einwohnerzahl von 30 000 bis 40 000 im Gefolge des Heeres und der Beamten unter den Schreibern der Verwaltung auch Tachygrafen tätig gewesen sind, wie das ebenso von den anderen Römerstädten in Germanien und Gallien wahrscheinlich ist; doch liegen aus diesem Bereich nur zwei Zeugnisse darüber vor, außer dem Grabstein des Xanthias das Loblied des berühmten Dichters Ausonius aus Bordeaux (4. Jahrhundert) auf die Kunst seines Stenografen. Von 260 bis 271 war Köln Residenz der gallischen Sonderkaiser, davon bis 268 des tatkräftigen Postumus, und bald darauf wurde Trier für 115 Jahre Kaisersitz für die westliche Reichshälfte. Da überall, wo lateinisch gesprochen und viel geschrieben wurde, die Tironischen Noten bekannt waren, geübt und geschätzt wurden – ihre Kommentare wurden noch ständig erweitert -, kann man mit recht auch auf ihre Verwendung an diesen Kaiserhöfen schließen. Unter den Merowingern und Karolingern ist es uns ja noch durch viele Urkunden bezeugt.


Xanthias hat allem Anschein nach einem wohlhabenden Privatmann gedient, dessen Beruf wir allerdings nicht kennen. Aus den „mannigfaltigsten Anzeichen“ schloß Klinkenberg (Archiv 1903 S. 57), daß die spätere Kaiserzeit die Inschrift hervorgebracht habe, als die Nachrufe ausführlicher, sentimentaler und im Lobe überschwenglicher geworden waren. Früher sei auch die poetische Form auf Grabdenkmälern selten. Das vollständige Verschwinden der Interpunktion sei erst Denkmälern des 4. Jahrhunderts eigen. Er setzte die Inschrift frühestens in das 3., noch viel wahrscheinlicher aber in das 4. Jahrhundert. Johnen nannte demzufolge die Zeit um 300. Viel später kann es nicht gewesen sein, da sich damals der wirtschaftliche Niedergang verstärkte und die Franken immer neue Einbrüche machten, im November 355 sogar die Stadt wir viele andere auf dem linken Rheinufer eroberten, plünderten und verwüsteten.


Merkwürdigerweise ist der Xanthiasstein zweimal aufgefunden worden: zuerst 1643 bei der Erweiterung der Goldenen Kammer der Ursulakirche; damals wurde er genau beschrieben, aber wieder als Baustein in das Altarpodium eingemauert. Als 1900 wieder Arbeiten in der Goldenen Kammer gemacht wurden, erwartete Klinkenberg ihn geradezu, und der Pfarrer konnte ihm im Februar 1901 die Auffindung mitteilen. Der Stein hatte durch Brüche und Abschürfungen gelitten, doch war es durch die frühere Abschrift möglich, den ganzen Text buchstabengetreu festzustellen.


Man weiß auch, woher der Stein stammt: In der Umgebung der Ursulakirche, die 225 m vor dem einstigen Nordtor der römischen Stadt liegt, begannen ausgedehnte Gräberfelder, die sich beiderseits der großen Heerstraße, die von Basen am Rhein entlang bis Leiden führte, weit ins Land hineinzogen. Zahlreiche Reste von diesen Grabdenkmälern und von einigen Götterdenkmälern, die an der Heerstraße gestanden haben dürften, sind in den Mauern und Altären der Ursulakirche als Bausteine verwendet worden und bei Umbauten oder Erneuerungen aufgetaucht. Der jetzige Bau stammt aus dem 11. Jahrhundert, hatte aber eine spätrömische Basilika als Vorgängerin.

Hier gibt es den Originalartikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert